Louisas Lauf des Lebens.
Louisa Draeger aus Görlitz wurde von einer furchtbaren Diagnose getroffen. Doch die 21-Jährige stand wieder auf und brachte selbst die Ärzte zum Staunen.
Sächsische Zeitung, Ausgabe vom 24.06.2014
von Frank Thümmler
Eine junge, schlanke Frau sitzt auf dem Görlitzer Untermarkt, genießt die Sonne auf ihrer Haut und sagt mit strahlenden Augen: „Ich bin so glücklich wie noch nie in meinem Leben.“ Dass Louisa Draeger, 21 Jahre alt, diesen Satz sagt, hätte sie selbst vor ein paar Monaten nicht für möglich gehalten. Da war höchst unsicher, ob sie im Juni 2014 überhaupt noch einen Satz würde sagen können.
Ihr bisheriges Leben wird im September 2012 über den Haufen geworfen. Louisa Draeger, damals 19, absolviert nach dem Abitur gerade ein freiwilliges ökologisches Jahr im Görlitzer Tierpark. Die größere Rolle in ihrem Leben spielt aber der Sport. Sie ist handballverrückt. Mit acht Jahren wurde sie vom Handballverein Koweg Görlitz geworben, inzwischen ist sie auf dem Sprung in die erste Frauenmannschaft, die damals Sachsenmeister geworden ist.
Ein Trainingstag kurz vor Saisonbeginn ändert alles. Louisa Draeger erinnert es heute so: „Ich hatte auf einmal unheimliche Schmerzen im Brustbereich. Das kannte ich bis dahin überhaupt nicht. Und sie gingen auch nicht weg. Eigentlich gehe ich so schnell nicht zum Arzt, aber damals bin ich dann doch in die Notaufnahme gefahren.“ Viel helfen kann man ihr da im ersten Moment nicht. Die Lunge wird geröntgt, sie wird wieder nach Hause geschickt – und irgendwann sind die Schmerzen weg. Eine Woche später muss sie sich einem Spezialisten vorstellen. Es folgen unzählige Untersuchungen, Louisa Draeger lernt den Computertomografen kennen. „Was man hat, erfährt man scheibchenweise. Die Aussichten werden immer düsterer“, sagt sie. Im Februar 2013, nach einer Gewebeentnahme, ist die Diagnose sicher: idiopathisch pulmonale Fibrose.
Eine niederschmetternde Diagnose
Wer im Internet nach diesem medizinischen Fachbegriff sucht, erfährt eine Hiobsbotschaft nach der anderen: Bei einer Fibrose wächst das Gewebe, mit dem die Lungenbläschen ausgekleidet sind, unkontrolliert und vernarbt. Die Lunge wird starr und unelastisch. Sie kann ihre lebenswichtigen Aufgaben des Gasaustauschs immer schlechter erfüllen. Die Form, die Louisa Draeger hat, ist besonders aggressiv. Sie ist die mit der schlechtesten Prognose. Medikamente und andere Therapien – wirkungslos. Mittlere Lebenserwartung nach Diagnosestellung: drei bis fünf Jahre. Die einzige Chance zu überleben ist eine Lungentransplantation.
Betroffen von dieser Krankheit sind in der Regel über 50-jährige Menschen, überwiegend Männer. Warum gerade sie? „Am Anfang war das besonders schwer“, sagt Louisa Dreager. „Man grübelt ständig über die Ursache, die man nicht finden kann. Ich war stinkig auf meinen Körper, der mir so etwas antut. Es hat eine ganze Weile gebraucht, bis ich die Krankheit akzeptiert habe.“
Doch sie ist eine Kämpferin. Das freiwillige ökologische Jahr aufgeben? Kommt nicht infrage. Mit dem Handballtraining aufhören? Nicht, solange es noch geht. Die Ärzte, die noch nie eine so junge und fitte Patientin mit dieser Krankheit vor sich hatten, werden später sagen, dass es nur so lange gutging, weil Louisa eine durchtrainierte Sportlerin mit einem großen Lungenvolumen ist. Allerdings sollte die Handballspielerin nun aufpassen, dass sie sich nicht überbelastet. Und langsam abtrainieren – ohne zu wissen, wie viel Zeit ihr dafür bleibt. Sie ahnt am Anfang nicht, wie schnell die Krankheit voranschreiten wird. „Bei jeder CT-Untersuchung waren die Bilder schlechter. Und meine Leistungsfähigkeit nahm rapide ab.“
Rückhalt durch Freunde und Familie
Früher konnte sie nie genug Bewegung haben. Jetzt muss sie ganz flach atmen, um Schmerzen zu vermeiden. Längst ist ihr klar, dass sie nicht mehr zum Kader der Handballmannschaft gehören wird. Trotzdem wird sie vom Verein zum Spielen angemeldet, als sei nichts geschehen: „Louisa gehört immer zu unserem Team“, sagt ihr Trainer damals fast trotzig.
Im Herbst, nur gut ein Jahr nach den ersten Anzeichen der Krankheit, sprechen die Ärzte erstmals von einer Lungentransplantation. Louisa Draeger sagt zu, weil es gar keine Alternative gibt. Auch wenn sie sich zunächst gar nicht so sicher ist. Fragen wie: Habe ich das Geschenk eines neuen Organs überhaupt verdient?, schwirren durch ihren Kopf. Schließlich ist die Warteliste gefüllt zum Beispiel mit Familienvätern, die Verantwortung für Kinder tragen. Am Ende entscheidet das Zureden der Freunde zur Transplantation. „Wie kannst du nur so etwas denken? Wir wollen dich doch bei uns haben“, sagen sie.
Das Warten auf den großen Tag ist zunächst vor allem eine psychologische Qual. Gespräche mit Freunden helfen. Und der Alltag. Louisa Draeger lässt sich nicht gehen. Sie nimmt in dieser Situation ein Studium an der Technischen Hochschule Zittau-Görlitz auf: Ökologie und Umweltschutz. Der Handball beschränkt sich immer mehr auf das Trainieren der E-Jugend, die von der persönlichen Situation ihrer Co-Trainerin wenig mitbekommen. Gesundheitlich gibt es mehrere kritische Momente. Die Notaufnahme sieht die Görlitzerin jetzt öfter. Am nächsten Tag ist sie trotzdem immer bei Studium und Training.
„Ich ziehe um ins neue Herz“
Weil es so schnell mit ihr bergab geht, rutscht Louisa Draeger auf der Transplantationen-Warteliste schnell nach vorn. Irgendwann kommt die Anweisung: keine großen Reisen mehr, Telefon immer dabei haben. Dann der Anruf – auf zur Operation. Sie wird auf den Eingriff vorbereitet, bis sich herausstellt, dass das Spenderorgan doch nicht passt. Also wieder zurück. Wieder nervenzerreißendes Warten. Ihre Lunge funktioniert immer schlechter. Es wird akut lebensbedrohlich. Dann, Anfang Januar, der zweite Anruf. Diesmal wird unmittelbar vor der Narkose abgebrochen. Die Werte der Patientin sind so schlecht, dass die Ärzte befürchten, sie würde die Operation nicht überleben. Und eine nächste Hiobsbotschaft: Sie hat eine Herzmuskelentzündung, die lange unentdeckt blieb. Um ihr Leben zu retten, müssen jetzt Lunge und Herz ausgetauscht werden.
Die Erinnerung an diese Tage möchte Louisa Draeger am liebsten auslöschen. Sie sagt nur, dass sie daran gedacht habe, aufzugeben. „Das Herz, das ist noch mal was ganz anderes. Da steckt die Seele drin. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich für mich eine Lösung gefunden habe. Die hieß: Das ist auch nur ein Muskel. Und ich packe jetzt alles zusammen und ziehe um in das neue Herz.“ Sie bleibt im Krankenhaus. Einmal wird es ganz kritisch, sie muss wiederbelebt werden. Nach zwei Wochen auf der Intensivstation ist es soweit. Ein Tag Ende Januar wird ihr zweiter Geburtstag.
Als sie aus der Narkose aufwacht, ist ihr erster Gedanke: „Lebe ich?“ Sie braucht eine Weile, um zu realisieren, dass die Operation überstanden ist. Schnell erwacht ihr alter Kampfgeist. 48 Stunden nach der Operation steht sie zum ersten Mal auf. Schon nach wenigen Tagen merkt sie: „Es geht wieder was.“ Das Atmen muss sie zwar neu lernen. In ihrem Gehirn sitzt noch fest, dass tief Luftholen weh tut. Aber bald kehrt das Lächeln in ihr Gesicht zurück. Ihr Ehrgeiz treibt sie voran. Louisa Draeger drängt schon im Krankenhaus auf Physiotherapie. Zwei Wochen nach der Operation sitzt sie mit Atemschutzmaske bei einem Heimspiel ihrer Handballerinnen schon wieder auf der Tribüne und wird mit einem Riesentransparent begrüßt. Sie darf aufs Parkett, jubelt und hüpft mit viel Adrenalin im Blut hin und her, als sei nie etwas gewesen. „Das war eine Riesenfreude und für mich eine große Überraschung“, sagt sie.
Jubel nach dem ersten Wurf ins Tor
Die 21-Jährige fühlt sich schnell wohl mit den neuen Organen. Sie setzt das Studium fort, holt alle Prüfungen nach. Und sie trainiert die neuen Organe, unternimmt erste Läufe. Leicht fällt ihr das nicht immer. Schmerzfrei bleibt die Gewöhnung an die neuen Organe nicht, erst recht nicht an immer höhere Belastungen. Aber die Freude an der Bewegung, der Wille, ins normales Leben zurückzukehren, sind größer. Und Schmerzen sieht sie nicht nur negativ: „Solange es wehtut, lebe ich noch.“
Schon bald, nachdem die Operationswunden verheilt sind, steht sie wieder auf dem Handballfeld, obwohl es dort auch mal harten Körperkontakt gibt. „Ich muss viele Sachen beachten, zum Beispiel meine Pulsfrequenz. Jedes Training wird für die Ärzte dokumentiert“, sagt die Rückraumspielerin, die jetzt doch wieder zum Kader der Frauenmannschaft gehört. Seit Anfang Mai trainiert sie mit.
Zwei Wochen später streift sie zum ersten Mal nach langer Zeit das gelb-blaue Trikot der Koweg-Frauen über, bei einem Freundschaftsspiel. Als sie dann, ganz wie in alten Zeiten, auch noch ein Tor erzielt, bricht die ganze Mannschaft in Jubel aus. Louisa ist wieder zurück in ihrer „Familie“, die ihr so sehr geholfen hat. „Der Kontakt zu meinen Mädels über das Internet war lebenswichtig für mich“, sagt sie.
Das normale Leben geht nicht schnurgeradeaus
Inzwischen ist Louisa Draeger wieder richtig fit. Anfang Juni hat sie am Görlitzer Europamarathon teilgenommen, ist zehn Kilometer gelaufen, 48:38 Minuten, persönliche Bestzeit, Zehnte von 156, schneller als alle Handballerinnen aus ihrer Mannschaft. „Ich konnte das selbst nicht glauben“, sagt sie. Ihre Ärzte wohl auch nicht. Sie hat bereits Einladungen, um über ihre Erfahrungen vor Betroffenen und Angehörigen zu sprechen – auch als Mutmacher. Vielleicht entsteht aus ihrem Erlebten ein Buch. Und vielleicht, wenn sie das Geld für die teure Reise zusammenbekommt, startet sie bei den World Transplant Games. Die Weltmeisterschaften für Transplantierte finden in gut einem Jahr in Argentinien statt.
Dass ihr Weg zurück ins „normale Leben“ noch lange nicht beendet ist, dass er steinig ist und nicht schnurgeradeaus führen wird, das weiß Louisa Draeger. Sie wird bis an ihr Lebensende Medikamente einnehmen und unter ärztlicher Kontrolle bleiben müssen. Im Moment aber, mit der Sonne auf der Haut, kann der Gedanke daran das Lächeln auf ihrem Gesicht einfach nicht vertreiben.
Foto: P. Wilhelm
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